"Überall nirgends lauert die Zukunft" - ARGE Kultur
Welche Erfahrungen machen Flüchtlinge auf ihrer Reise in eine bessere Zukunft? Was eint sie mit denen längst vergangener Tage? Diese und andere Fragen ergründet die Uraufführung von Vladimir Vertlibs „Überall nirgends lauert die Zukunft“ (Regie: Christa Hassfurther), eine Koprodution von bodi end sole und ARGEkultur.
Ihre Zukunft hätten sich die Flüchtlinge in der Flüchtlingsunterkunft irgendwo in Deutschland oder Österreich vermutlich auch anders vorgestellt. Nach strapaziösen Reisen aus ihren Herkunftsländern sitzen sie erzwungen zusammengepfercht in einem Heim einer fremden Stadt, die sie nicht möchte. Vor den Türen skandieren hasserfüllte, deutschnationale Demonstranten, die Bürgermeisterin (Dorit Ehlers) spricht sich nur auf Wahlplakaten für sie aus, eine neugierige Journalistin (Anna Russegger als unaufdringlich vermittelnde Instanz zwischen Publikum und Erzählung) stellt naive Fragen und auch interne konfessionsbedingte Kontroversen und Brandanschläge erleichtern keinesfalls das Eingewöhnen und den Neuanfang. Das ist das Heute. Aus dem Gestern kommt David (konsistent ernst, melancholisch und persistent gegenwärtig Jurij Diez), der Shoah-Überlebende und ehemalige „Displaced Person“ (DP), der vor 70 Jahren in einem ebensolchen DP-Heim im gleichen Haus untergebracht war. Jetzt will er vor seinem Tod noch eine letzte Angelegenheit erledigen. Zwei Welten prallen aufeinander, mit Ibrahim aus Syrien (desillusioniert und trotzdem zaghaft optimistisch Salim Chreiki) scheint er auf sein arabisches Pendant zu treffen. Dennoch zeigt sich relativ rasch, dass sich der Jude und die Moslems, Christen und all die anderen Konfessionen eigentlich ein Schicksal teilen. Im Laufe von ÜBERALL NIRGENDS LAUERT DIE ZUKUNFT eröffnen sich erschreckende Parallelen zwischen höchst aktueller Gegenwart und bereits zu oft in Vergessenheit geratener Vergangenheit. Gleichzeitig ist da aber immer auch ein Stückchen Hoffnung, feinsinnige Ironie und ergeben sich Chancen der Begegnung.
Für ÜBERALL NIRGENDS LAUERT DIE ZUKUNFT setzten Regisseurin Christa Hassfurther und Autor Vladimir Vertlib (Bühne: Alois Ellmauer, musikalische Leitung: Sophie Hassfurther), neben deutschen Schauspielern aus der freien Szene, auf Menschen mit Migrationshintergrund. Wie Elfriede Jelinek 2013 mit „Die Schutzbefohlenen“ kreierten sie einen Chor aus Flüchtlingen, der das Zentrum des Stücks bildet und es auch maßgeblich gestaltet. Ihre persönlichen Hintergründe und Erlebnisse flossen in den Entstehungsprozess mit ein. Vielleicht ist das der Grund, warum das Schauspiel das Publikum so berührt, dass es am Ende euphorisch stehende Ovationen spendet. In szenischen Rückblenden werden Stationen der Flucht zu neuem Leben erweckt und dem Publikum eindrücklich näher gebracht. Die verzweifelte Fahrt mit dem Schlauchboot von Izmir nach Lesbos oder das penetrant laut ratschende Geräusch des Klebebandes, wenn sich der Chor vor seiner Abfahrt noch rasch die Mobiltelefone an den Bauch klebt. Die grell orangen Schwimmflügel der Kinder, die ihnen über die Arme gestülpt werden und im Falle eines Falles doch nichts nützen werden. Der langwierige, harte Marsch durch den Schnee über den Balkan bis nach Österreich. Was bisweilen lehrstückhaft anmuten könnte, wird durch die nächste Handlung bereits wieder aufgehoben. Das professionelle Ensemble überzeugt und harmoniert bestens mit der offensichtlichen Spielfreude der Neo-Schauspieler*innen. Gelungen übrigens der Schritt, die Kinder der Flüchtlinge durchaus auch mit österreichischen oder deutschen Kindern zu besetzen. An der Glaubhaftigkeit wird nicht gerüttelt, aber das Wir-Gefühl gestärkt.
ÜBERALL NIRGENDS LAUERT DIE ZUKUNFT regt zum Denken an und erreicht hoffentlich noch sehr viele Menschen. Zu sehen ist das Stück von Vladimir Vertlib und Christa Hassfurther jedenfalls noch bis 28.04.2016 in der ARGEkultur.
© Veronika Zangl, 2016
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Bilder: ARGE Kultur